Heranziehen neuer Äste schwierig
Zunächst ein paar Worte zu den fehlenden Ästen an der Hangseite (Norden). Grundsätzlich bildet ein Baum in alle Richtungen Äste aus. Bei Beschattung verkümmern diese. Keine Morgensonne, Hanglage, möglicher (nicht mehr vorhandener) Bewuchs und/oder abgesägte Äste: Das alles wirkt sich negativ aus. Es ist leider schwierig, nur anhand von Bildmaterial und ohne den Baum in seinem Lebensraum zu inspizieren, seriöse Antworten zu liefern. Auf den Bildern sind an der Rinde am Stamm die Stellen aber noch einigermaßen deutlich zu erkennen, an denen ursprünglich Äste waren. Über die Ursachen für das Fehlen derselben kann ich nur spekulieren. Wahrscheinlich abgesägt? Vielleicht, weil sie zu kümmerlich waren oder gestört haben? Wenn aber untere Äste erst einmal weg sind, wird es schwierig und an der Nordseite fast unmöglich, am Stamm wieder stärkere Äste heranzuziehen.
Bäume wachsen im Gleichgewicht
Grundsätzlich wachsen Bäume nicht unendlich in eine Richtung, sondern zwingend im Gleichgewicht. Müssen sie ja, sonst würden sie umfallen. Gleichgewicht heißt aber nicht, dass sie immer symmetrisch wachsen. Die Form wird bestimmt von vielen Faktoren wie zum Beispiel Licht, Knospenzahl, Stellung von Ästen innerhalb des Baums, Astlängen, Dicke der Äste oder Steilheit der Äste. Wenn Übergewicht droht, steuert der Baum dagegen. Dies gelingt ihm durch Ausbildung und Positionierung von Wurzeln oder durch Ausbildung von Zug- und Druckholz an geeigneten Stellen – um nur einige bekannte Mechanismen zu nennen. Brechen Äste ab, dann tun sie das aufgrund äußerer Spontan-Ereignisse, die das Gleichgewicht überfordert haben, zum Beispiel plötzliche hohe Wind- oder Schneelasten oder starker Fruchtbehang. Dem kann der Baum nicht schnell genug durch Wachstum entgegensteuern.
Unterstützende Schnittmaßnahmen
Sie können durch entsprechende Baumschnittmaßnahmen unterstützend eingreifen und den Sicherheitspuffer erhöhen, indem Sie entweder die äußere Blatt- und Astmasse verschlanken (Schlankschnitt ohne starke Reduzierung des Kronenumfangs) und damit den Hebel verringern – oder den Kronenumfang verkleinern (Höhenreduktion) und damit die Windangriffsfläche reduzieren, was die Windlast verringert. Allerdings ist die letztgenannte Methode oft nur mit starken Schnitteingriffen (Kappungen) verbunden. Deshalb würde ich zunächst versuchen, die schonendere Methode des Schlankschneidens zu prüfen, eventuell in Kombination mit Kronensicherungen. Kappungen bringen immer Folgeprobleme (Faulstellen und Bildung von schlecht verankerten Sekundärtrieben) mit sich.
Aber: Der Baumschnitt kann nicht auf einzelne Äste beschränkt werden, sondern muss die gesamte Krone umfassen. Wenn Sie beispielsweise im unteren Teil der Krone einen Ast zurücksetzen (wie Sie das bei den ausgebrochenen Ästen beschrieben haben), dann kann dieser Ast nicht mehr gleichberechtigt mit den Ästen darüber mithalten, weil er in der Hierarchie (Kampf um die Nährstoffe) nicht mehr mithalten kann. Er wird kümmerlich bleiben oder im schlimmsten Fall verkümmern und absterben. Will er in gleichem Maße wachsen wie die Äste über ihm, muss er länger sein als diese, dicker und mehr Knospen besitzen (sehr vereinfacht dargestellt).
Weil er aber nun nicht mehr länger und kräftiger ist, müsste man die Länge der Äste über ihm reduzieren, ebenso die dickeren Äste über ihm entfernen und die Knospenzahl der höherrangigen Äste reduzieren, um ihn in der Hierarchie wieder voran zu bringen. Das aber würde einer Verkrüppelung des Baums bedeuten. Das geht also auch nicht.
Mein Tipp
Ich würde versuchen, die oberen Äste (obere Baumkrone) im Längenwuchs zu bremsen, und die unteren Äste so gut es geht zu fördern. Dazu müssen alle Möglichkeiten, das Wuchspotenzial von Ästen zu beeinflussen, genutzt und aufeinander abgestimmt werden: Lage und Stellung der Äste, Verzweigung, Winkel, Anzahl Knospen, Astdicke, Schnittzeit usw. Keine einfache und eine sehr langwierige Angelegenheit. In der Tat kann man durchaus den Baum durch gezielten und gekonnten Baumschnitt dazu bewegen, sein Wuchsverhalten den eigenen Wünschen anzupassen. Natürlich geht das nur bedingt und im Rahmen des baumtypisch Möglichen. Es ist jedoch mehr erreichbar, als mancher glaubt.
Nicht möglich: Neue Äste am bereits kahlen Stamm
Leider muss ich Sie bezüglich des Wunsches enttäuschen, den Baum mehr nach Norden wachsen zu lassen. Zumindest im unteren Teil des kahlen Stamms wird es nicht mehr gelingen, Äste zu etablieren. Selbst wenn dort aufgrund von Maßnahmen neue Äste wachsen würden, so wären diese nur oberflächlich am Stamm angebunden und würden irgendwann aufgrund von Übergewicht ausbrechen. In meiner Anfangszeit als Baumschneider habe ich das mehrfach versucht, teilweise schöne Sekundärkronen herangezogen und musste immer wieder die gleiche Erfahrung machen: Astausbruch! Deshalb ist es so wichtig, Primäräste im unteren Kronenbereich zu erhalten, selbst wenn sie im Dickenwachstum mit den oberen Ästen nicht mithalten können. Diese Primäräste können zu einem späteren Zeitpunkt – besonders im hohen Baumalter – nochmals hilfreich und wichtig werden. Nämlich dann, wenn der Baum sich „zurückzieht“ und von oben her abstirbt.
Verkahlung ist ein natürlicher Prozess
Auf die Südseite fällt mehr Licht. Wachstum braucht Licht. Längenwachstum ist jedoch nur dann sehr ausgeprägt, wenn starke Konkurrenz durch andere Bäume oder andere Äste vorhanden ist. Ansonsten fördert Licht eher die Verzweigung und damit die Blattmasse. Das Längenwachstum ist dann nicht sehr ausgeprägt. Freistehende Bäume sind deshalb (im Verhältnis) nicht sehr hoch, sondern sehr verzweigt, gedrungen, breit und mit dichtem Blattwerk in der Kronenperipherie.
Manche Bäume bilden in der Peripherie eine dichte Wand aus Blättern. Das heißt, sie lassen kaum Licht in das Kroneninnere, was die Zahl der Feinäste, Blätter und Knospen dort frühzeitig minimiert. Zurück bleiben kahle Starkäste. Andere Bäume sind von ihrem Wuchs her nicht darauf angelegt, Feinäste im älteren Holzbereich zu erhalten. Früher oder später verkahlen alle Bäume im älteren Holz. Buchen und Platanen eher, Eichen oder Linden später.
Deshalb kann man Eichen durch Schlankschnitt relativ einfach im Wuchs bremsen und das Wachstum im Kroneninneren oder in der unteren Krone fördern. Schnittmaßnahmen konzentrieren sich dafür zu neunzig Prozent auf das obere und äußere Kronendrittel (obere und äußere Peripherie). Trotzdem dauert es ein paar Jahre, bis Erfolge sichtbar werden. Schneller geht es mit Kronenreduktion im oberen Kronenbereich (Kappungen). Das wird aber teuer erkauft und kann nur die Ultima Ratio sein, wenn gar nichts mehr geht. Denn die Folgeschäden durch Kappungen sind immens und das Problem stellt sich in ein paar Jahren erneut – dann aber zusätzlich noch mit unstabilen neuen Starkästen und höherem Kontroll- und Pflegeaufwand aufgrund der Verkehrssicherheit.
Grafik: Schlankschnitt vs. Kappung bei Ästen
Ursprünglicher Ast
Ursprünglicher Ast mit starker Belaubung im vorderen Astbereich (Peripherie). Dadurch hohe Hebellast und Gefahr des Astausbruchs.
Schlankschnitt
Ast durch permanenten Schlankschnitt im vorderen Bereich (Peripherie) ausgedünnt. Dadurch Förderung der hinteren vorhandenen Triebe und Verzweigungen. Hebelmasse wird reduziert, trotzdem viele eigenständig schwingende Äste, die gefährliche Resonanzschwingungen reduzieren. Hebel wird verringert und Astlängenwuchs gebremst ohne Reduzierung des Kronenumfangs.
Kappung
Ast durch Kappung reduziert. Dadurch Reduzierung des Hebels. Starke Neutriebbildung im Bereich der Kappung. Wuchs nur im vorderen Teil. Nach ein paar Jahren deshalb wieder gleicher Zustand wie vorher. Hinzu kommt die unstabile Astanbindung der Sekundärtriebe an der Schnittstelle, an der sich die durch den Schnitt verursachte Fäule immer mehr ausbreitet.
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